Die Bloggerin Marie Sophie Hingst ist nun beerdigt worden

von Lea Rosh, Vorsitzende Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.“

Sophie war für mich eine Schwester, eine Tochter, eine Enkelin, eine Freundin – alles zusammen und unersetzlich. Der Schmerz über ihren Tod wird mich mein Leben lang begleiten.

Wir haben sie am Mittwoch zu Grabe getragen. In einem wunderbaren Sarg gestiftet von der Firma INTEL, für die sie zuletzt in Dublin gearbeitet hatte. INTEL hatte ihr nicht gekündigt unter der Bedingung, dass sie sich wöchentlich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen müsse. Sophie hatte zugestimmt. Das hat sie aber nicht von ihrem Selbstmord abhalten können.

Ihr Herz und ihre Seele haben den shitstorm, der über sie nach den Artikeln im SPIEGEL und im Tagesspiegel hereingebrochen war, nicht ertragen können.

Wir haben sie gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem Onkel, mit Freundinnen und Kollegen zu Grabe getragen. In kleinstem Kreis, wie ihre Mutter es sich gewünscht hatte. Mit uns war Derek Scally von der Irish Times, den Sophies Eltern ausdrücklich eingeladen hatten. Scally, der sich ein Bild gemacht hatte von Sophies hochkritischem psychischen Zustand, veröffentlichte seinen fertigen Artikel nicht. Stattdessen verfasste er nach ihrem Tod einen neuen Artikel, der nichts ausließ, aber vieles eben in ihren labilen Krankheitszustand einordnete. Das ist guter und verantwortungsvoller Journalismus. Genauso wie der Artikel „Licht und Dunkel“ von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung, ein wunderbar einfühlsamer Text, der dem Krankheitsbild und der hohen, aber auch zerbrechlichen Intelligenz von Sophie gerecht wird. Das Gegenteil von dem, was der Autor des SPIEGEL-Artikels Martin Doerry gemacht hatte: obwohl die Mutter ihn im Telefonat vorher explizit darauf hinwies, erwähnte er Sophies Krankheit mit keinem Wort. Das hätte seine Geschichte von der Hochstaplerin, der Lügnerin und quasi-Verbrecherin schließlich kaputt gemacht. So war sie rund und gelungen, eine richtige SPIEGEL-Geschichte eben. Und Caroline Fetscher im Tagesspiegel übernahm nicht nur unkritisch Doerrys Narrativ, sondern bezeichnete Sophie auch noch nach ihrem Tod und mit dem Wissen um ihre Erkrankung als Hochstaplerin. Was für ein Armutszeugnis!

 

Marie Sophie Hingst:

„Leider ist aus mir ja weder eine Salondame, noch eine Dichterin geworden. Dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen, auch hier.“
Marie Sophie Hingst
20.10.1987 – 17.07.2019

Keine jüdische Familie
Keine Slum-Klinik in Indien
Keine Aufklärungsstunde
Nur ein gutes Herz, das zu früh aufhörte zu schlagen,
weil es nicht mehr krank sein wollte.
Sie war hochbegabt, hochintelligent, aber auch hochgefährdet,
sie hatte mehrere Realitäten, wir hatten Zugang nur zu einer.

Wir vermissen sie schon jetzt.

In tiefer Trauer für den:
Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.
Lea Rosh
sowie: Annette Ahme, Christl Benchea, Ulla Bleckmann,
Daniela Herzig, Kay Forster,
Danny Freymark, Jutta und Werner Ginzkey,
Renate und Rolf Kreibich, Olaf Lemke
Und: Stefan Noack

Artikel von der Süddeutschen Zeitung

Manchmal ist es genauso falsch, über etwas zu schreiben, wie nicht darüber zu schreiben. Wie lange man die Gründe dafür oder dagegen abwägt, nichts scheint richtig zu sein. Es ist wie mit der Bettdecke, die zu kurz ist: Wie man auch an ihr zieht und rupft, immer bleibt irgendetwas kalt.

Es ist das, was Aristoteles in der „Topik“ die Gleichheit entgegengesetzter Überlegungen, oder: eine Aporie, nannte: „Immer wenn wir zu beiden Seiten hin überlegen und uns dann alles auf ähnliche Weise gemäß jeder der beiden Möglichkeiten zustande zu kommen scheint, sind wir ratlos, was von beidem wir tun sollen.“ Über den Freitod eines Menschen zu schreiben oder nicht zu schreiben, ist eine solche Aporie. Man fühlt sich elend, ganz gleich, was man tut.

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